
Wenn Sprache verschwindet: 1984 im Theater Basel
Wer ein Bild der Zukunft sehen möchte, sollte sich ein Gesicht vorstellen, das unaufhörlich von einem Stiefel niedergetreten wird. Diese eindringliche Aussage beschreibt das Leben in einem totalitären Staat – einem Staat, der seit fast 80 Jahren existiert: Ozeanien, der dystopische Schauplatz des Romanklassikers „1984“ von George Orwell. Eine Adaption dieses Werks wird derzeit im Theater Basel von der Ballettkompanie auf die Bühne gebracht. von Mirco Kaempf
25.05.14 1984
Die Balletkompagnie zeigt aktuell eine Adaption von George Orwell's '1984'
Was George Orwell nach dem Zweiten Weltkrieg in „1984“ entwarf, war ursprünglich als Satire gedacht – ein antifaschistisches Plädoyer, das als „Wehret den Anfängen“ verstanden wurde. Heute gilt der Roman als dystopischer Klassiker, der immer wieder als erschreckend realistisch und hochaktuell beschrieben wird. Der berühmte Satz „Big Brother is watching you“ wird oft im Zusammenhang mit Datenschutz zitiert. Ein Staat, der Informationen überwacht, allgegenwärtige Bildschirme um uns herum – leben wir bereits in einem „orwellschen“ Staat?
Nicht ganz. Oder womöglich auch, vielleicht? Die Adaption der Ballettkompanie macht deutlich, worum es vor allem geht: um Sprache. Hier wird nicht nur das Vokabular beschnitten, sondern auch das Ausdrucksvermögen der Tänzer:innen. Die Adaption ist kein klassisches Ballett, sondern ein physisches Theater. Das Ensemble wird seines Selbstverständnisses beraubt, indem Tanz in der gewohnten Form kaum vorkommt. Die Darsteller:innen bewegen sich steif und eckig, sprechen miteinander in einem affektierten, fast roboterhaften Ton, als fehle ihnen das nötige Vokabular, um echte zwischenmenschliche Verbindungen aufzubauen.

Im Zentrum steht „Newspeak“, eine Sprache, die alle alten, subversiven Begriffe zerstört und die Welt so weit entfremdet, dass, wenn der Staat behauptet, „2 + 2 = 5“, dies als Wahrheit akzeptiert wird. Gedankenverbrechen werden geahndet, und wer anders denkt, wird ausgelöscht. So wirkt auch der Dialog des Ensembles angespannt und emotionslos – als sei der menschliche Ausdruck über Generationen hinweg normiert worden. Dies entspricht der Welt von Ozeanien, in der die Partei die Menschen ihrer Menschlichkeit beraubt hat. Zynische Zeitungsleser:innen denken jetzt vielleicht an die Beschneidung der Diversity Programme durch die US Politik, oder die Verunglimpfung der "Woke" Bewegung auch hierzulande.
Immer wieder werden einzelne Figuren dazu gebracht, bestimmte Bewegungen oder Sätze mehrfach zu wiederholen. Diese absurden Wiederholungen verdeutlichen, wie das Abnormale in dieser Gesellschaft zur Normalität geworden ist. Der Begriff „Doublethink“ – der Glaube an zwei widersprüchliche Wahrheiten – und „Doublespeak“ zeigen, wie Worte ihren Inhalt verlieren und Menschen dadurch machtlos werden. Wie können wir Freiheit verstehen, wenn uns das Wort dafür fehlt?
In diesem bedrückenden Setting fügt sich das Ensemble nahtlos ein. Die Geschichte von Winston und Julia entfaltet sich in einer kargen, düsteren Atmosphäre, und das Publikum hofft immer wieder, einen Funken Tanz und Menschlichkeit zu erhaschen. Diese Momente gibt es, doch sie sind selten. Es ist eine radikale Entscheidung, auch den Balletttänzer:innen ihre gewohnte Sprache zu entziehen und sie zu physischen Theaterspieler:innen zu machen – aber es ist die richtige Entscheidung. Mit dem Ergebnis, dass „1984“ im Theater Basel wohl nicht das unterhaltsamste Stück des Jahres sein wird, aber mit Sicherheit eines der relevantesten.
