Dem Monster ins Antlitz zu blicken, statt darüber zu schweigen
Als Jackie Brutsche zehn Jahre alt ist, nimmt sich ihre psychisch kranke Mutter das Leben. Wie geht man mit einem solchen Trauma um, ganz persönlich, aber auch in der Familie? Diese Frage behandelt die Künstlerin und Musikerin in ihrem ersten Kinofilm Las Toreras. Zu sehen im Kultkino. von Mirco Kaempf
23.11.21 Las Toreras podcast
In ihrem ersten Kinofilm geht Künstlerin Jackie Brutsche dem Schicksal ihrer psychisch kranken Mutter nach. Zu sehen im Kultkino.
Jackie Brutsche ist den Rock'n'Roll-Fans wahrscheinlich eher als Frontfrau ihrer Garageband "The Jackets" aus Bern bekannt. Seit rund 15 Jahren agiert sie theatralisch und geschminkt als Jack Torera, auf hiesigen und internationalen Bühnen der Clubs und Festival. Auch künstlerisch hat sie sich ein eigenes Universum an Referenzen, Ästhetik und Ausdrücken aufgebaut, zum Beispiel auch in One-Woman-Shows Theaterstücken - immer leicht skurril, gepaart mit Pop und Sehnsucht. So jetzt auch im Film "Las Toreras", hier begrüsst sie ihr Publikum als perfekten Archetypen des Cowboy-Westernstars, gekleidet in Schwarz, mit geschminkten, aufgerissenen Augen.
Jack Torera, ihre Kunstpersona und Alter Ego, hat Jackie Brutsche schon früh kreiert. Nachdem sie im Alter von nur 10 Jahren ihre Mutter verloren hatte, musste sie erst lernen, dass sie trotzdem ein glückliches Leben verdient hat. Die Kunst war hierbei schon früh ihre Rettung. Doch der Wunsch nach Verarbeitung wurde zunehmend spürbar. Für ihren Film begibt sie sich also auf die Suche nach ihrer Mutter. Wer war sie wirklich? Sie interviewt ihre Familie in der Schweiz und reist nach Granada, Murcia und Alicante, um Mitglieder der spanischen Seite ihrer Familie zu interviewen.
"Dieser frühe Schicksalsschlag hat meinem Leben eine Richtung gegeben und in meiner Kunst habe ich einen positiven Umgang damit gefunden und konnte daraus schöpfen. Ohne die ganze Geschichte selber zu kennen, sie offenzulegen oder dem Publikum zumuten zu wollen. In meiner Familie hat man nie mehr über meine Mutter und ihre psychischen Probleme gesprochen, Schuldzuweisungen lagen in der Luft und heiklen Themen ging man aus dem Weg. Irgendwann blockierten mich die vielen offenen Fragen und ich wollte nicht länger im Unwissen leben und meine wichtigste Geschichte verbergen. Mit diesem Film wollte ich mit der schmerzlichen Wahrheit umgehen und zeigen, dass es sich lohnt - auch Jahrzehnte später - sich ihr zu stellen."
Ihre Mutter, Carmen, lernen wir im Film "Las Toreras" als eingenwilliges, kluges Mädchen kennen. Sie träumt davon, nach Paris auszuwandern, die Welt zu entdecken und Schriftstellerin zu werden. Sie verliebt sich in Jackies späteren Vater und zieht in die Schweiz. Wir erfahren jedoch, dass sie psychisch krank war. Wahnvorstellungen und zwanghaften Störungen prägte ihren Alltag immer stärker. Sie wurde in Krankenhäusern behandelt und mit Medikamenten versorgt. Trotzdem war es, als ob ein Monster in ihrem Kopf leben würde. Das hat sie in Tagebüchern beschrieben und auch gezeichnet. Im Film "Las Toreras" sehen wir Jack Torera, wie sie mit diesem Monster kämpft, zu Boden geworfen wird, nur um schliesslich umarmt zu werden.
Der Film "Las Toreras" zeigt eine Künstlerin auf der Suche nach ihrer verstorbenen Mutter, indem sie ein Thema anzusprechen beginnt, welches in ihrer Familie lange Zeit verschwiegen wurde. Der Suizid eines Familienmitglieds mit einer psychischen Krankheit trägt ein grosses Stigma, führt zu Schuldzuweisungen und verschiedenen persönlichen Realitäten. Jackie Brutsche tritt diesen entgegen. Bis Dinge zu Tagen treten und sich die beiden Teile ihrer Familie, einander schliesslich wieder annähern.
"Aber ich erkannte, dass es keine absolute Wahrheit gibt. Unzählige Einflüsse, Entscheidungen, Umstände, Zufälle und Verbindungen formen das Leben. Dieses komplexe Zusammenspiel ergibt für jeden mit einer anderen Perspektive eine andere Geschichte und Wahrheit. Im Film war es mir wichtig diese Komplexität zuzulassen und dem Publikum zuzumuten. Wir Menschen suchen oft nach einfachen Erklärungen in einer äusserst komplexen Welt. Es erfordert Mut und anhaltende Anstrengung, die eigene Meinung ständig zu hinterfragen und anzupassen, unter der Annahme, dass es nicht nur eine Wahrheit gibt, sondern vielleicht so viele wie Menschen. Eine offene und nie abgeschlossene Betrachtung ist entscheidend, um Geschichte zu verarbeiten und zu verstehen, um Tabus zu überwinden und Konflikte zu lösen."
Zu sehen in Basel im Kultkino camera, mindestens noch bis Mittwoch, und anderen Schweizer Filmhäusern.