Album der Woche: Tranquilizer von Oneohtrix Point Never

Die sample-beladenen, collageartigen Kompositionen von Oneohtrix Point Never, schweben irgendwo zwischen Vaporwave, Ambient, New Age und funktionellem Chillout. Inspiriert von Sample-CDs aus den 90ern ist sein neues Album «Tranquilizer» eine moderne, wenngleich nostalgiebeladene Referenz an diese Stile – aber auch eine Kritik an unsere Zeit, in der der Lärm überstimulierter Gedanken keine Stille zulässt und mit Nostalgie übertönt werden muss. von Dion Monti

25.12.01 Tranquilizer by Oneohtrix Point Never - ADW Podcast

Das neue Album Tranquilizer von Oneohtrix Point Never

Daniel Lopatin, bekannt als Oneohtrix Point Never, hat seit den frühen 2000er Jahren einen festen Platz in den atmosphärischen Klangwelten der elektronischen Musik. Seine sample-beladenen, collageartigen Kompositionen schweben irgendwo zwischen Vaporwave, Ambient, New Age und Chillout.

In den letzten 20 Jahren hat sich Lopatin mit 11 Alben nicht nur als äusserst produktiv, sondern auch als eine Art Spezialist für nostalgische Klangwelten erwiesen – mit der Fähigkeit, Stile und Techniken der letzten 40 Jahre Popkultur zu rekreieren. Neben seinen Soloarbeiten hat er auch für verschiedene Filme komponiert und mit grossen Namen der Popwelt zusammengearbeitet, darunter David Byrne, FKA Twigs und The Weeknd.

Die Stimmung im Wartezimmer der Seele

Lopatin sagte einmal über seine Musik, sie versuche die Stimmung einzufangen, wenn man beim Zahnarzt im Stuhl liegt, auf seine Behandlung wartet und dabei Softrock im Hintergrund läuft – eine banale, kosmisch unangenehme und leicht dystopische Erfahrung. Sein neues Album «Tranquilizer» trägt diese Qualitäten in sich: Einerseits ist es unauffällig, frei von Ecken und Kanten, im ultrasynthetischen Sounddesign seltsam steril und unpersönlich – und doch einzigartig.

Wie oft bei seinen Projekten steckt auch hinter «Tranquilizer» ein Konzept. Das Album basiert auf einer Sammlung von Sample-CDs aus den 90er und frühen 2000er Jahren, die Lopatin einst in einem Internetarchiv gefunden hatte. Damals speicherte er die Seite, um später darauf zurückzukommen – nur um festzustellen, dass die Sammlung später gelöscht worden war. Nachträglich tauchte das Archiv zum Glück doch wieder auf. Diese Erfahrung offenbarte für ihn die Anfälligkeit des Internets als Archiv, aber auch die Fehlerhaftigkeit unseres Vertrauens in die Dauerhaftigkeit einer Cyberwelt.

«Tranquilizer» kommuniziert diese Fehlerhaftigkeit und Vergänglichkeit perfekt. Einerseits ist es ein Album, das nostalgisch ist und uns daran erinnert, was verloren gegangen ist – gleichzeitig schafft es aber, ständig in sich selbst zusammenzubrechen. So ist sogar die Erinnerung als Beruhigungsmittel vergänglich.

Das Album ist eindrücklich zusammengebaut und umgesetzt. Die Balance zwischen Collage und Synthese ist elegant und oft im Dialog mit sich selbst. Wenn das Störgeräusch eines Handys auftaucht, wird es sofort von einem tranceartigen Synthie gespiegelt. Wenn virtuelles Piano und der Sample einer gedämpften Trompete erscheinen, werden diese sofort durch moderne Produktionstechniken neu kontextualisiert.

Ambient und Chillout waren schon in ihrer Entstehungszeit funktionell, mit ihrer Funktion gleichsam im Namen eingebettet. New Age hat schon damals Spiritualität und Mystik synthetisiert und Natur virtualisiert.

«Tranquilizer» ist ein Album, das diese Stile und Zeiten liebevoll referenziert, aber die Hörer*innen dennoch nicht ganz abdriften lässt. Ein Soundtrack für eine Zeit, in der sogar Entspannung erarbeitet werden muss. Eine Zeit, in der Stille für viele beunruhigend ist und der Lärm überstimulierter Gedanken mit Nostalgie an eine Ära übertönt werden muss, die viele Hörer*innen nie erlebt haben.